Während meiner Lokführerausbildung im Bw Halle P waren Mitte der achtziger Jahre "Belehrungsfahrten" auf der klassischen DR-Ellok BR 211/242 angesagt. Diese fanden weitestgehend im Personen- und Güterzugdienst statt, man sollte aber vor der praktischen Prüfung schon einmal einen Schnellzug selbst gefahren haben.
Als die elektrischen Lokomotiven des Bw Halle P ab Juni 1984 mit Personen- und Schnellzügen auch zunächst Berlin-Schöneweide und im Herbst auch Lichtenberg erreichten, entstanden attraktive Lokumläufe und Dienstschichten mit der BR 211.
Die Züge der Relation Saalfeld - Berlin fuhren von Camburg bis Schöneweise mit Ellok durch und so kam man schnell auf über 900 Lokkilometer pro Tag. Der Dienstplantag 1 im Dienstplan 5 sah vor, dass wir in Halle (Saale) Hbf ablösen, mit D501 nach Camburg und von dort mit D504 nach Berlin-Schöneweide fahren. Den D507 hatten wir zurück nach Halle zu befördern. Das waren insgesamt 468 km, die sich Kollege Dieter Nagel und ich am 11. Januar 1985 vorgenommen hatten.
Als wir uns kurz nach 7.00 Uhr in der Lokleitung zum Dienst meldeten, lag die Quecksilbersäule des Thermometers bei fast -10 Grad. Auch erfuhren wir, dass die Baumusterlok 211 002 unsere Zuglok sein wird. Der Lokleiter meinte nur: "Na dann zieht Euch mal warm" an. Wir fuhren mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof und lösten den Lokführer des leicht verspäteten D501 am Bahnsteig 4 ab. Das wir auf einer der Baumusterloks saßen, hörten wir am Kompressorengeräusch. Es hörte sich an, wie auf einer E44. Zeit, um es uns gemütlich einzurichten, hatten wir nicht. Das Ausfahrsignal zeigte grünes Licht und nach dem Abfahrsignal ging es gleich los. Fahrstufe 2 - ein Ruck - und der Zug setzte sich in Bewegung. Noch freuten wir uns auf unsere fast 500 km, wenn es auch kalt, laut und dunkel auf unserem Führerstand war.
Zunächst hatten wir freie Fahrt und erreichten bald Merseburg. Anschließend ging es vorbei an den Leunawerken, die bei den herrschenden Minusgraden eine gespenstische Kulisse abgaben. Kurz hinter Leunawerke Nord gab es einen dumpfen Hieb und ein kleines Blitzlichtgewitter. Wegen der schlechten Gleislage war der Hauptschalter gefallen. Ich musste das Schaltwerk ablaufen lassen und anschließend konnte der Hauptschalter wieder eingelegt werden. Kurz vor Großkorbetha erreichten wir mit 120 km/h nochmal unsere Höchstgeschwindigkeit – dann lag der P3004 vor uns. Nach Halten in Weißenfels und Naumburg, wo wir den Personenzug überholten, erreichten wir mit einiger Verspätung Camburg. Dort übergaben wir unseren Zug an eine Diesellok. Auf dem Nachbargleis dampfte die 41 1150 vor sich hin, die auf den verspäteten P3003 nach Saalfeld wartete.
Zunächst hatten wir unsere Lok im Camburger Lokfahrgleis „an der Mauer“ abgestellt und uns in der Mitropa-Gaststätte den obligatorischen "Broiler", das Brathähnchen und einen heißen Kaffee einverleibt. Dann überprüften wir die Maschine von außen. Da die Entwässerungshähne des Hauptluftbehälters zugefroren waren, durften wir eine Fackel entzünden und das Ganze etwas erwärmen.
Mit unserem D501 fuhren wir zunächst pünktlich ab, mussten am Abzweig Saaleck auf einen verspäteten Schnellzug nach Leipzig warten. Noch schaffte es die kleine Führerstandsheizung, uns etwas Wärme zu spenden. Die auf dem Bahnsteig in Naumburg warteten Fahrgäste sahen schon ein wenig mehr nach Kälte aus. Abfahrsignal! Zusatzbremse lösen - Fahrschalter auf - Fenster zu! Die Fenster der Baumusterlok wurden wie bei der „Donnerbüchse“ mit Lederriemen hochgezogen und dann verriegelt. Wir konnten die 120 km/h Höchstgeschwindigkeit zwar mehrfach erreichen, bis Halle gab es auf 65 Kilometern acht Langsamfahrstellen! In Halle-Süd zeigte sich ein Rotes Signal. Schienenbruch! An solchen kalten Tagen war das damals nicht unnormal. Nach Sonnenaufgang entdeckte man die Schienenbrüche und musste etwas unternehmen. Wir hatten Glück, denn es ging gleich weiter und wir erreichten mit 30 min Verspätung Halle.
Nun sollte der D504 ohne Halt bis Berlin-Schönefeld fahren. Das ging auch weitestgehend gut; nur einmal hatten wir eine verzögerte Signalfreigabe. Auf der Strecke nach Berlin konnte unsere „Elfer“ zeigen, was in ihr steckt. Die Fahrstufe 12 bemühte ich öfters, denn beim Beschleunigen gab es nichts zu verschenken. Noch waren wir zufrieden, denn es rollte dem Umständen entsprechend gut.
Aber langsam wurde es kalt und meinen Kollegen Dieter hielt es nicht mehr auf seinem wackeligen Begleiterstuhl. Bei der Geschwindigkeit zeigten sich auch die Nachteile des Tatzlagerantriebes und man wurde auf dem Führerstand anständig durchgeschüttelt. Dazu kann bei der 211 002 ein spezieller Makel. Ihre mechanische Anfahrhilfe war wegen der Abnutzung ausgebaut worden und das Raw Dessau hatte die Öffnungen nicht verschlossen. Dadurch drang fortwährend kalte Luft in den Führerstand ein, was langsam unangenehm wurde.
Tatsächlich kamen wir noch zu einer vernünftigen Zeit in Berlin-Schöneweise an, wo wir unseren Zug nach Ankunft in die Abstellgruppe zurück schoben und ins Bw fuhren. Dort stieß eine Heizlok der BR 52 dicke Rauchwolken in den Winterhimmel und wir nutzten die kurze Zeit zu einem Gang in die Kantine des Bw. Dort war es nicht besonders warm und auch etwas schmuddelig. Aber etwas essen und trinken konnten wir dort, mussten aber bald wieder zurück zu unserer Lok, um sie nicht zu sehr auskühlen zu lassen. Der D 507 wurde zeitig genug bereitgestellt. Es kam auch ein Rangierer, der Kupplung, Luftschlauch und Heizung verband. Die Bremsprobe verlief ohne Probleme. Es dämmerte schon, als wir mit dem Zug pünktlich Berlin verließen.
Nach der Anfahrt gab es einen lauten Knall. Der Hauptschalter war gefallen und der Zeiger des Monometers vom Hauptluftbehälter senkte sich bedrohlich nach unten. Der Zug war gerade vom Bahnsteig weg und nun das! Was tun? Ehe ich die Möglichkeiten der Hauptschalterauslösungen gedanklich sondiert hatte, war Dieter Nagel in den Maschinenraum gestürzt und schien mit einem harten Gegenstand an die Führerhausrückwand zu schlagen. Tatsächlich hatte sich das dort liegende Sicherheitsventil "aufgehangen" und der Trick mit dem leichten Schlag half! Der Hauptschalter konnte wieder eingelegt werden und der Zug blieb nicht liegen.
Inzwischen war es dunkel geworden und beim Halt in Schönefeld wehte uns ein eisiger Ostwind um die Ohren. Bald ging es weiter. Es schien nun von allen Seiten kalte Luft in den Führerstand einzudringen. Mein Kollege trat von einem Bein auf das andere und ich bewegte die Zehen in meinen harten Filzstiefeln, die mir Kollege Kurt Schaffernicht am Morgen schnell geborgt hatte. Wenn nur unser D 507 rollte und uns unser Zugpferd nicht in Stich ließ! Jüterbog - Wittenberg - Bitterfeld - bald war es geschafft! Nie habe ich den Feierabend so herbeigesehnt wie an diesem Januarabend auf dem zugigen Führerstand der 211 002. Sie hat uns aber wirklich nicht in Stich gelassen! Wir erreichten Halle mit nur wenigen Minuten Verspätung und waren froh, bald im Bw einzutreffen und unter die heiße Dusche zu schlüpfen. An diesem Abend habe ich lange zum Duschen gebraucht…
Joachim Volkhardt
Foto: Ralph Lüderitz (Sammlung Joachim Volkhardt)